Rede zum Gedenken an die Pogromnacht 1938 am 08.11. 2019

Ort: Gedenkstätte der Großen Gemeindesynagoge, Gottschedstraße/Zentralstraße

von Gisela Kallenbach

Sehr geehrte, liebe Leipzigerinnen und Leipziger,

uns allen, die wir uns heute hier versammelt haben, ist das hebräische Wort Schalom vertraut. Wir grüßen damit einander wenn wir in jüdischer Gemeinschaft sind, um unserem Wunsch nach Friede und  Versöhnung auszudrücken.

Nun habe ich inzwischen gelernt, Schalom ist mehr als Friede, es ist Zufriedenheit, nicht der Zustand, sondern der Weg dahin – ZuFrieden-heit.

In der ursprünglichen Bedeutung heißt es Unversehrtheit, Heil.

Wo Schalom ist, finden sich nicht nur Sicherheit und Ruhe sondern auch Gesundheit und Freude. Aber: der Schalom kommt nicht von selbst, wir müssen uns ständig aktiv um ihn bemühen.

Daher bin ich froh, dass es eine lange und gute Tradition ist, dass wir uns hier an dieser Gedenkstätte einfinden, um an unfassbare Taten vor nunmehr 81 Jahren zu erinnern. Da versammeln sich, vielleicht auch heuchlerische, vor allem aber sensible und wachsame Menschen, egal ob sie gläubig sind oder nicht, egal welcher Religionsgemeinschaft sie angehören oder nicht – sie alle sind Bewohner oder Gäste unserer Stadt, ohne Unterschied, ohne Kennzeichnung oder Stigmatisierung.

Wir wissen, das war nicht immer so und wir sind hier, weil wir wollen, dass nie wieder Menschengruppen Ausgrenzung, Bedrohung oder Diskriminierung – aus welchen Gründen auch immer erfahren.

Es sind beschämende Erinnerungen, die wir aus der Erzählung unserer Vorfahren und Dokumenten kennen. Leipzigerinnen und Leipziger jüdischen Glaubens wurden unmittelbar aus ihrer Lebensumwelt gerissen, verschleppt, gefoltert, ermordet – ohne dass es einen durchdringenden Aufschrei der Stadtgesellschaft gegeben hätte.

Dabei waren die Geächteten oft insbesondere Menschen, die mit ihrem Wissen und Können wesentlich zum Wohl unserer Stadt gewirkt haben als Wissenschaftler, Ärzte, Künstler, Händler als Nachbarn und Freunde. Da spielte es keine Rolle, ob man der angesehene Chefarzt im Eitigon war oder der Gewandhaus- Kapellmeister. Sie alle wurden Opfer der menschenverachtenden Ideologie der Faschisten.

Die Gleichgültigkeit viel zu vieler oder gar die leise Zustimmung haben das ermöglicht, nur wenige haben Hilfe gewährt. Die Folterer und Brandstifter waren aber auch Leipziger Bürger.

Heute oder noch heute und wieder gibt es Menschen, die das schreckliche Geschehen, den Holocaust verharmlosen oder gar leugnen. Zu viele geben diesen geistigen Brandstiftern auch noch ihre demokratische Stimme. Da wurde gerade ein Spitzenkandidat gewählt, der laut Gerichtsbeschluss als Faschist bezeichnet werden darf.

Das kann nicht mehr als Protestwahl kaschiert werden – das ist Überzeugung. Und noch immer geht kein Aufschrei durch unsere Gesellschaft. Wieder reagieren viel zu wenige.

Das macht mir Angst. Es ist höchste Zeit, dass wir über Lippenbekenntnisse und Mahnwachen hinaus klare Botschaften senden. Wer immer noch schweigt, macht sich der Mittäterschaft schuldig. Wir müssen gemeinsam verhindern, dass alltäglicher Hass das Klima in der Gesellschaft vergiftet.

Damit komme auch ich nicht umhin, auf die alarmierende Zunahme rechtsextremer, antisemitischer und rassistischer Hetze und Gewalt, auf die  Taten in Halle oder Kassel hinzuweisen. Endlich und mehr als zurecht gibt es klare Forderungen an die Politik und die Polizei dem mit allen Befugnissen des Rechtsstaates Einhalt zu gebieten. Viel zu lange wurde das vernachlässigt und verharmlost.

Dennoch:  ich war stolz auf unsere Stadt Leipzig, weil unsere jüdischen Einrichtungen bisher nicht einer ständigen Polizeipräsenz bedurften. Die Mitglieder unserer israelitischen Religionsgemeinde konnten frei und meist unbehelligt unter uns leben als selbstverständliche und geachtete Bürgerinnen und Bürger unserer Stadt. Sie öffneten das Begegnungszentrum Ariowitschhaus weit in die Stadt hinein und hießen jedermann friedlichen Willens herzlich willkommen.

Nach Halle ist das verständlicher Weise infrage gestellt. Angst macht sich breit. Mehr Sicherheit ist angefragt; Türen werden verschlossen. Ich frage mich, was heißt das für unsere gemeinsame Zukunft?

Was ist das für eine Gesellschaft, in der man Türen verschließen muss, weil radikalisierte Menschen zur konkreten Gefahr werden können? Wie auch z.B. im Rathaus die Tür zum Büro des Oberbürgermeisters.

Die Tür zur Halleschen Synagoge, die dem Sprengstoff und den Schüssen standhielt, ist zum Symbol dafür geworden, dass Juden und andere Menschen mit klarer Haltung für Toleranz, Gemeinschaft und Solidarität sich einschließen und verbarrikadieren müssen. Dem müssen wir entschieden widersprechen und die Türen weit offen halten.

Wer nun immer noch behauptet, jetzt sei der rechtspopulistische Rassismus in der Mitte der Gesellschaft angekommen, irrt entweder oder will irreführen. Das nationalsozialistische Denken und Sprechen ist nie aus der Mitte gewichen, höchstens verborgen gewesen.

Daraus leite ich einen deutlichen Appel an uns alle, an die Zivilgesellschaft ab. Die Zeit der schnellen Mahnwachen und Betroffenheitsrituale ist vorbei. Werden wir aktiv, provozieren wir unsere Familie, Freunde, Arbeits- und Sportkollegen mit konkreten Anfragen zu ihrer Einstellung zu Juden, Geflüchteten, Roma, Muslimen oder auch Obdachlosen und am Rande unserer sogenannten bürgerlichen Gesellschaft lebenden Menschen. Fragen Sie genau nach, ob sie jemanden davon wirklich persönlich kennen und auf welchen Fakten ihre möglicherweise existierende Ablehnung basiert.

Heute müssen wir agieren und nicht nur reagieren. Nehmen wir das mit in unseren Alltag.

Sie können auch ein Zeichen setzen durch ihre Mitgliedschaft im Verein Synagoge und Begegnungszentrum, dem Förderverein für die Arbeit des Ariowitschhauses. Je mehr Unterstützer dessen Arbeit hat, je mehr Gemeinschaft existiert, je weniger Chancen haben Spalter und Demagogen in unserer Gesellschaft. Das war der Anspruch der Bürgerinnen und Bürger der Stadt Leipzig über Jahrhunderte – unterbrochen durch 12 Jahre Schreckensherrschaft einer fehlgeleiteten, instrumentalisierten Zivilgesellschaft. Es liegt an uns, welchen Anspruch wir für unsere Stadt Leipzig, für unser Land, für Europa definieren.

Schalom

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